Ein unverhofftes Konzert

Nachdem sich ihr letzter Musikschüler in das bevorstehende Wochenende verabschiedet hatte, stellte Frau Fröhlich die beiden letzten Stühle auf den Tisch und öffnete das Fenster, um noch einmal zu lüften. Währenddessen suchte sie nach ihrem Schulschlüssel, bereit, sich selbst in den Feierabend zu entlassen. Gerade als sie sich ihre warme Wolljacke überziehen wollte, schweifte ihr Blick über das alte Rönisch-Klavier. Ja, warum sollte sie sich nicht noch ein paar Minuten mit diesem Instrument vergnügen, zumal Frau Fröhlich in ihrer Wahlheimat im Bundesland der Alleen zuhause auf einem E-Piano musizierte, welches sie beim damaligen Kauf aus transporttechnischen Gründen einem klassischen Klavier vorgezogen hatte. 


Sie klappte den Deckel auf und rückte sich den wackeligen Drehstuhl zurecht. Nun denn, zunächst mochte es ein Walzer sein, ein lyrischer, ein russischer, von einem ihrer Lieblingskomponisten. Bereits als Schülerin der siebten Klasse hatte sie selbiges Stück im Pflichtfach Klavier auf einem wundervollen Flügel an der damaligen Spezialschule für Musik in der Geburtsstadt des Komponisten von Feuer- und Wassermusik einstudiert. Im Hauptfach trainierte sie auf der Violine, und Fächer wie Musiktheorie, Gehörbildung, Chorsingen, Orchesterspiel, Musikgeschichte und Übungsstunden komplettierten den Reigen des wochentäglichen Zehn-Stundenplans neben den üblichen allgemeinbildenden Unterrichtsfächern. Für einen Moment versank sie in sentimentale Nachdenklichkeit, musste dann aber schmunzeln, als sie an die turbulenten Abenteuer im Schulinternat dachte, in einer zum Träumen einladenden großen Villa aus der Zeit des Jugendstils, deren Bausubstanz sich damals allerdings in einem traurigen Zustand befand.


Aber die Tasten dieses Instruments hier waren weitaus schwergängiger zu bespielen als auf dem damaligen Blüthner und erst recht, als sie es von ihrem E-Piano gewohnt war, obwohl dieses mit gewichtetem Tastenanschlag ausgestattet war. Sie musste hier schon recht derb in die Tasten greifen, um die Akkorde koordiniert erklingen zu lassen. Doch allmählich begann der Dreivierteltakt tänzerisch zu fließen, obwohl sie doch erst seit einem viertel Jahr wieder ernsthaft Klavier übte. Immerhin hatte es gleich drei Anfragen zum Erlernen dieses Instruments gegeben. Normalerweise unterrichtete sie seit nunmehr 15 Jahren Violine und Viola neben ihrer Konzert- und Veranstaltungs- und früheren langjährigen Konzertmeistertätigkeit. Außer brotloser Internetmusikvideos war der instrumentale Einzelunterricht in diesem Jahr noch die einzige Möglichkeit, sich als Musikerin Existenzminimums sichernd in die Gesellschaft einzubringen, denn Veranstaltungen und Konzerte waren mit ein paar kümmerlichen Unterbrechungen schon seit dem Frühjahr Geschichte.

Oh, an dieser verschlungenen Terzführung des Walzers stolperte Frau Fröhlich immer mal wieder, aber es war auch wirklich heikel, dieses verwahrloste Instrument zum Schwingen zu bringen. Und wie schrecklich verstimmt es war! In den oberen Oktaven ähnelte es tatsächlich eher einem Salonpiano aus dem nostalgischen Westen als einem alten Klimperkasten aus dem rebellischen Osten. Aber auch in letzterem wurden nunmehr die ersten Schritte für die heilbringende Digitalisierung der Schulen eingeleitet: Mit kleinen Hand- und riesigen Wandtafelbildschirmen. Und anderem technischen Spielzeug. Vielleicht war sie etwas eigensinnig, aber sie hatte andere Prioritäten: 14 Schüler waren sie damals gewesen und ein Jahr zuvor sogar nur acht.


Jetzt war es wirklich zum Haare raufen! Wie sollte Frau Fröhlich ein dramaturgisches Crescendo modellieren, wenn dieses Klavier sich wie eine alte Schindmähre aufbäumte?! Anstatt eines präzisen Treffers gleich dem Plop beim Abschlag im Tennisspiel fühlte es sich mit dieser schwammigen Tastatur wie beim Kneten eines dicken Hefeteigs an. Also schön, dann mutierte das umschlungene Tanzpaar ihrer Fantasie eben musikalisch zum Duo aus tapsigem Schneemann und Bären, die auf der Suche nach Väterchen Frost Freunde werden, um den Kindern rechtzeitig zum Fest den Tannenbaum zu überbringen. Na bitte, ging doch! Was doch anstatt von Gefühlsduselei mit ein bisschen Grobheit aus so einem lieblos gewarteten alten Kasten herauszuholen war!

Aber nicht alles ließ sich immer auf diese Art und Weise regeln. Und dabei zeigte sich seit Anfang der Adventszeit tatsächlich ein Silberstreif am Horizont, der vielleicht im kommenden Sommer endlich wieder erste öffentliche Konzerte ermöglichte. Ein medizinisches Weihnachtsgeschenk, welches leider bisher nur von wenig Volk als solches erkannt und gewürdigt wurde. Aber im Laufe der Zeit würden sie hoffentlich alle von selbst darauf kommen.

Wie wäre es, aufgrund dieses frohstimmenden Himmelleuchtens jetzt ein fröhlich quirliges Rondo eines der größten Wunderkinder der Wiener Klassik zu zelebrieren? Welche Freude: Die schnellen Fingerläufe im Viervierteltakt ließen sich überraschend gut händeln. Anschließend sich genussvoll in die Oktaven fallen zu lassen, erweckte bei Frau Fröhlich nahezu Euphorie. Links brummelten und schrummelten die Bässe wohlig, gleichwohl wirbelten die rechten Akkordkaskaden jubelnd mit ihnen um die Wette: Schroing! Schrooiing!! Schrooooiiing!!!

 

Ganz benommen lauschte Frau Fröhlich dem Nachhall der dröhnenden Klänge und atmete tief und zufrieden durch, als sie auf einmal ein dringendes Bedürfnis verspürte. In sich hineinlächelnd öffnete sie die Tür des Musikraums, als sie plötzlich stutzte: Unmittelbar vor ihren Füßen saßen auf dem Boden drei Erstklässler dicht an die Tür gedrängt mit ihren Vesperbroten und schauten mit leuchtenden Augen zu ihr auf: Ob sie denn nochmal so etwas Schönes spielen könne. Sie, die drei Jungen, säßen schon die ganze Zeit hier und hätten freudig gelauscht. Es hätte so wundervoll geklungen und sie würden so gern noch einmal etwas hören.
Und auf einmal leuchteten auch die Augen der Musikerin und mit einer winzigen Träne im Augenwinkel schritt sie frohgemut durch die Jungen und rief fröhlich zurück: „Ich bin gleich wieder da!“

Nach einer wahren Begebenheit

Carmen Hoyer, 16.12.2020